Babetteria 47: Was die Autoren Aléa Torik und Dave Eggers mit Digitalisierung zu tun haben

b471Ich arbeite nicht nur, ich lese auch. So bin ich gerade auf einen interessanten Artikel über einen Professor gestoßen, der die organisatorischen Angelegenheiten mit seinen Studenten seiner Assistentin überließ. Anders als ich selbst (!), war diese allerdings lediglich ein Algorithmus auf einem Computer: Ihr geistiger Vater lehrt am Fachbereich für Künstliche Intelligenz. Am liebsten aber lese ich Bücher. Vor allem solche, die sich mit den Themen „Digitalisierung“ und „Neue Arbeitswelt“ beschäftigen. Die Veränderungen unserer Lebenswirklichkeit, die wir jeden Tag spüren, erleben und erarbeiten, werden auch von der Literatur aufgegriffen und thematisiert. Im Folgenden habe ich zwei Buch-Empfehlungen, die sich auch als Geschenk für Intranet-Projektteams, New Workplace Stakeholder und Digital Leader eignen.

Beide Bücher gehören in die Belletristik – erfundene Literatur – gehen aber gänzlich unterschiedlich mit ihrem Stoff um. Dave Eggers beschreibt seine Figur, obwohl sie sich in einer modernen Welt bewegt, auf althergebrachte Weise, nämlich von außen. Aléa Torik hingegen erzeugt ihre Figur mittels zeitgemäßer Möglichkeiten von innen heraus.

Umgang mit „Social“ bei Dave Eggers: „Der Circle

Mae Holland bekommt einen Job bei einem Unternehmen namens Circle – die Verschmelzung von Google, Facebook und Apple – und ist von Anfang an begeistert. Der Circle ist für sie eine neue Welt und sie geht vollständig in ihr auf. Sie bricht nach und nach alle Kontakte zur Außenwelt ab und ist nur noch innerhalb des Circle aktiv. Sie arbeitet, lebt und schläft auf dem Campus. Alle Verbesserungen auf der Welt scheinen von hier auszugehen. Der Circle ist ihr Paradies. In ihrer Freizeit pflegt Mae ihre sozialen Profile. Je aktiver sie ist, desto höher ist ihr soziales Ranking und desto größer die Anerkennung. Sie will wahrgenommen und natürlich geliebt werden. Dafür engagiert sie sich – was sie allerdings nicht bemerkt – bis zur vollständigen Selbstaufgabe.

Der Circle ist ein Unternehmen, das für technische Innovationen bekannt ist. Seine neuste Erfindung dient einem scheinbar hehren Ziel: Transparenz. Dabei geht es vor allem darum, Politiker vor dem Missbrauch ihrer Macht zu bewahren. Sie werden mit einer Kamera ausgestattet, die einen permanenten Livestream ihres Lebens produziert und ins Netz stellt. Ihr Privatleben wird damit abgeschafft. Was anfangs nur für Politiker gedacht war, greift langsam auch auf andere Gesellschaftsschichten über. Je mehr Menschen eine Kamera tragen und ihr Leben ins Netz stellen, umso transparenter wird angeblich die Gesellschaft.

Mae ist begeistert. Das letzte bisschen Distanz verliert sie, als sie selbst – als das Aushängeschild des Circles – eine Kamera bekommt. Von nun an wandelt sie den ganzen Tag über den Campus und stellt der Weltöffentlichkeit neue Forschungen des Circle vor. Sie wird nicht einmal dann kritisch, als man dort anfängt, demokratische Strukturen zu unterwandern und die Funktionen des Staates zu übernehmen. Beim Circle zeigen sich totalitäre Strukturen, die jeden individuellen Gedanken, jede kritische Distanz verbieten. Mae erkennt die wirkliche Situation nicht.

Das Buch lieferte in meinen Intranet-Projekten viel Gesprächsstoff zu permanenter Erreichbarkeit, zu befürchteter Informationsflut im Intranet und zu Leitplanken für den Umgang mit Neuen Medien.

Blogbeiträge im Web und im Buch von Aléa Torik: „Aléas Ich

Aléa Torik ist eine aus Rumänien stammende, junge Frau, die an der Universität in Berlin über fiktive Literatur promoviert. In ihrem vielbeachteten und teilweise hochfrequentierten Blog – www.aleatorik.de – führt sie über mehrere Jahre eine Art persönliches Journal. Sie berichtet dort von ihrer Promotion oder von Urlauben bei den Eltern in Rumänien. Sie hat mit „Das Geräusch des Werdens“ ihren ersten Roman publiziert und berichtet in dem Blog nun vom Entstehen ihres zweiten Romans „Aléas Ich“ – eine Art Autobiografie. Dort erzählt sie von einer jungen Frau namens Aléa Torik, die in einer internationaler werdenden Welt nach Deutschland kommt, promoviert und an ihrem zweiten Roman schreibt, den sie „Aléas Ich“ nennen will: Der Leser sieht also dem Buch, das er fertig in seinen Händen hält, bei seiner Entstehung zu.

Nach und nach zeigt diese Realität aber Brüche: Das Gespräch mit ihrem Professor stellt sich als frei erfunden heraus. Die attraktiven Männer, die sich um Aléa bemühen, scheinen ihrer Fantasie entsprungen zu sein. Die Eltern, die Kindheit in Rumänien – das alles scheint gar nicht wirklich zu sein, sondern sind Erzählfäden aus ihrem Roman. Der Leser weiß mit fortschreitender Lektüre nicht mehr, wo Aléas Wirklichkeit aufhört und ihr Roman anfängt. Aléa spaltet sich auf, in erzählende Person und erzählte Figur. Das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion scheint sich permanent zu verändern und am Ende, man ahnt es bereits, stellt sich auch Aléa als eine frei erfundene Figur heraus. Wie nun einmal alle Figuren in Romanen.

Kein Mensch heißt Aléa Torik. Die Frau ist fiktiv. Die beiden Romane wurden von den Feuilletons für den authentischen und weiblichen Tonfall gelobt. Der Blog, der sogar vom Marbacher Literaturarchiv archiviert wurde und mit hunderten Einträgen über Jahre Leser in Atem hielt, provozierte tausende Kommentare. Das alles wurde von einem Mann ersonnen. Einem Mann, der nicht promoviert hat, kein Wort Rumänisch spricht und nur einmal während des Schreibens zwei Wochen in dem Land Urlaub machte. Über Jahre wurde dieses Arrangement nicht bemerkt. Weil sich ein Mann offenbar wirklich in eine Frau hineinversetzen konnte. Weil er das Handwerk des Schreibens beherrscht: Was man schon allein daran erkennt, dass die Figuren umso wirklicher werden, je mehr man versteht, dass sie erfunden sind.

Mich begeistert bei diesem Buch das Verwirrspiel um Aléa Torik, die Offenheit der „Autorin“ gegenüber den Neuen Medien, die sie nicht nur beschreibt, sondern kreativ für den Dialog mit den Lesern nutzt.

Wirklichkeit und Netzwirklichkeit

Während Eggers in der klassischen Trennung von Wirklichkeit und Fiktion verbleibt – Fiktion auf der einen und Wirklichkeit auf der anderen Seite – zeigt Aléa Torik, dass die Trennung von Wirklichkeit und Fiktion gar nicht glasklar ist. In der modernen Lebenswelt – Stichwort Internet – müssen wir das Verhältnis der beiden immer wieder neu überdenken. Früher, wenn wir das Haus verlassen haben und auf die Straße getreten sind, waren wir automatisch in der Wirklichkeit. Heute, wenn wir uns im Netz bewegen, sind wir das nicht mehr. Wir sind nicht mehr einfach wir selbst, sondern wir teilen uns, wie Aléa, in erzählende und erzählte Person. Wir werden im Netz zu einem fiktiven Abbild unserer Selbst. Diese fundamentale Veränderung unserer Identität hat Aléa Torik nicht nur erzählt, sondern in aller Radikalität vorgeführt.

b472

 

Unsere Wirklichkeit ist keine objektive Wahrnehmung dessen, was ‚wirklich‘ ist, sondern ein sehr komplexes Konstrukt. In diesem Sinne schreibt Lena Pappasabas in „Digitale Erleuchtung“ vom Zukunftsinstitut über das Vorhandensein multipler Realitäten: „Die Konstruiertheit der eigenen Wirklichkeit wird umso augenfälliger, je stärker sie sich an anderen Realitätskonstrukten reibt. An dieser Vielfalt von Realitätswahrnehmungen führt im Netz – anders als in prädigitalen Zeiten – kein Weg vorbei.“

So, die Digitalisierung und die Veränderungen, die sie mit sich bringt und die sie von uns fordert, können wir, wie Eggers zeigt, nicht einfach nur hinnehmen. Wir müssen uns wie Torik aktiv damit auseinandersetzen: Weil wir sonst von ihr überrollt werden. Also: Bücher lesen!

PS: Gewinnerin bei der Verlosung ist Miriam Sch. aus Düsseldorf. Sie erhielt das Buch von Aléa Torik „Aléas ich“.